Mit Kapazitätsmanagement die Grundprobleme in Krankenhäusern angehen
Das Wort «Kapazitäten» ist in aller Munde. Vor Covid-19 war vor allem von «Überkapazitäten» die Rede. Es gebe vor allem in der Schweiz zu viele Angebote beispielsweise zu viele Betten. Und während Covid-19 dass man alle Kapazitäten zur Bewältigung der Pandemie nutzen muss.
Es hat sich gezeigt, dass teilweise zu wenige Kapazitäten vorhanden waren. Oder dass die vorhandenen Kapazitäten nicht gut mit- und aufeinander abgestimmt waren. Nach der Pandemie wird die gezielte und optimale Nutzung der vorhandenen Kapazitäten weiter an Bedeutung gewinnen. Das Wort stammt aus dem Lateinischen («capacitas») und bedeutet so viel wie Fassungsvermögen. Für ein Krankenhaus bedeutet das, welches Leistungsvermögen es besitzt. Es geht nicht um das Leistungsvermögen der einzelnen Kliniken, des OPs oder der Notfallaufnahme. Vielmehr geht es um die Leistungsfähigkeit des Gesamtsystems, des Zusammenspiels der einzelnen Elemente und Einheiten. Eine Gesamtsicht fehlt oft. Optimiert wird im eigenen Bereich oder in der eigenen Abteilung. Aus unserer Erfahrung liegen hier die Grundursachen vieler Probleme von Krankenhäusern und Kliniken.Im weiteren Sinn sogar für die ganze Gesundheitsversorgung.
Die tägliche Frustration mit Betten und Ressourcen
Es ist Mittwochmorgen neun Uhr. Die Stationsleitungen aller Abteilungen treffen sich zur täglichen «Bettenbesprechung». Tanja Albert, die Stationsleitung der Abteilung A meldet sich: «Wir müssen heute Betten sperren, weil eine Pflegende kurzfristig ausfällt. Wir haben das zwar gestern schon gewusst. Wir hatten jedoch damit gerechnet, dass heute nur zwei stationäre Aufnahmen kommen. Das hätten wir geschafft. Nun sind es aber fünf. Ausserdem können heute nicht alle Patienten wie eigentlich geplant entlassen werden. Es wäre toll, wenn wir heute für die Spätschicht noch jemanden aus dem Personalpool als Verstärkung erhalten würden. Dann kriegen wir es bis am späten Nachmittag wieder in den Griff.»
Katrin Wehmayer vom Bettenmanagement traut der Sache jedoch nicht. Sie kann nicht so lange warten. Sie fängt an, die Aufnahmen neu auf die Abteilungen zu verteilen. Sie kennt das. Es ist ihre alltägliche Routine. Sie führt etliche Telefonate und Abklärungen durch. Nachdem sie die diensthabende Ärztin nach mehreren Versuchen erreicht hat, kann sie das Problem lösen. Frau Wehmayer und Frau Albert sind erleichtert. Sie haben es wieder einmal geschafft. Mittlerweile konnte auch jemand aus dem Personalpool für die Spätschicht organisiert werden. Die Unterstützung wäre jedoch jetzt gar nicht mehr nötig. Die Betten bleiben sicherheitshalber mal gesperrt.
Einer dieser fünf Patienten – Reto Schwarz – liegt nun zwangsläufig auf der «Medizin» auf der Abteilung E statt auf der «Chirurgie». Für die Abteilung E ist es sich nicht Alltag, elektive Eingriffe aufzunehmen und in den OP zu bringen. Abteilungsleiter Herbert Schneider ist entsprechend genervt. Wieder einmal einer dieser «Fremdlieger». Die angeordnete Blutentnahme geht beinahe vergessen. Das verzögert den Prozess. Schliesslich erscheint Patient Schwarz zu spät im OP. Der OP-Koordinator Johann Marxer erfasst in seinem Dashboard wieder einmal, dass ein Patient 15 Minuten zu spät in der Schleuse war. Er hat bereits die nächste Sitzung der OP-Kommission im Kopf und rechnet wieviel «ihn» diese Verzögerung kostet. «Realisieren sie auf der Abteilung dann nicht, dass jede Minute im OP teuer und jede leere OP-Saalminute verlorenes Geld ist? Wir hatten das ja eigentlich beim letzten Austausch ausführlich besprochen.»
Am Nachmittag geht Operateur Dr. Mark Peter auf «seine» Abteilung A zur gewohnten Post-OP-Visite. Er findet den operierten Patienten Schwarz jedoch nicht. Der liegt auf Abteilung E. Genervt macht er sich auf den Weg dahin und ruft auf dem Weg Frau Wehmayer vom Bettenmanagement an. Er beklagt sich über den «Fremdlieger» und wünscht eine sofortige Verlegung von Herrn Schwarz auf die gewohnte Abteilung A. Nur so könne die beste Behandlung sichergestellt werden.
Heute ist viel Betrieb auf der Notfallabteilung. Es gibt mehr Patienten zu betreuen als normalerweise. Zudem treten auf den Abteilungen weniger Patienten aus als geplant. Die heutige Planung ging nicht auf. Das bedeutet, dass Herr Schwarz nicht der einzige «Fremdlieger» ist. Für die Abteilung A und Tanja Albert hat das zur Folge, dass die ursprünglich gesperrten Betten doch wieder geöffnet werden müssen. Die Patienten, die aufgenommen werden, sind jedoch nicht diejenigen, die ursprünglich geplant waren. Es sind vor allem medizinische Patienten, also auch «Fremdlieger». Tanja Albert weiss bereits, dass sie morgen an der Bettenbesprechung darum bitten wird, dass diese Patienten auf die «richtige» Abteilung verlegt werden.
Die Mitarbeitenden auf den Abteilungen, welche nicht direkt beteiligt waren, fragen sich am Ende des Tages: «Warum legt das Bettenmanagement die Patienten nicht gleich auf die richtige Abteilung?»
Die Grundprobleme in Krankenhäusern angehen
Dies ist eines der Grundmuster, wie es die meisten Krankenhäuser kennen. Es gibt viele mehr. Ein Beispiel ist das Universitätsklinikum, bei dem immer am Montagmorgen zu wenige Betten in der inneren Medizin frei sind. Das führt dazu, dass es die Notfallabteilung «Abflussproblem» hat. Man kann seine Uhr danach stellen. Die Notaufnahme kennt das und kritisiert regelmässig die innere Medizin. Sie sollen doch endlich das Entlassmanagement am Wochenende verbessern. Die innere Medizin erwidert, dass genau das am Wochenende eben nicht möglich ist. Beispielsweise akzeptieren die Rehabilitationskliniken oft am Wochenende keine neuen Patienten.
Ein anderes typisches Grundmuster ist die Auslastung der Intensivpflegestation (IPS). Der reguläre OP-Betrieb startet am Montag mit grösseren Eingriffen. Bis gegen Mitte der Woche werden die Plätze für chirurgische Patienten auf der IPS knapp. Jahraus jahrein ist es das gleiche Spiel.
Diese Grundmuster stehen alle beispielhaft für den systemischen Stress von Krankenhäusern und Kliniken. Wir führen das darauf zurück, dass das «Angebot» (=Anzahl Betten, OP-Säle, Anzahl Mitarbeitende, etc.) und «Nachfrage» (=Patientenbedürfnisse und -aufkommen) nicht aufeinander abgestimmt sind. Das ist keine einfache Aufgabe. Es gibt kaum komplexere und (leider) kompliziertere Systeme als Krankenhäuser. Aber es ist machbar. Der «selbstgemachte», systemische Stress lässt sich vermeiden.
Mehr Ruhe und bessere Rahmenbedingungen für Patienten und Mitarbeitende
Beispiele in den USA und den Niederlanden zeigen: Es ist möglich dieses Grundmuster und -ursachen anzugehen. Der Ansatz dafür ist Kapazitätsmanagement, auch bekannt als «Integral Patient Flow». Das Ziel des integralen Patientenflusses ist es, die Systemleistung Medizin zu optimieren. Es geht darum, Stabilität und Ruhe zu schaffen. Damit können sich Ärzte, Pflegende und alle anderen an der Behandlung beteiligten Personen auf das konzentrieren, auf das es ankommt: die Arbeit mit den Patienten. Die Patienten erhalten die richtige Betreuung, durch die richtigen Personen und im richtigen Moment. Die erreichten Resultate sind beeindruckend:
- Weniger «Störungen im System» (unnötige Telefonate, Doppelabklärungen)
- Ausbalanciertere Verteilung der Arbeitsbelastung über das ganze Krankenhaus hinweg
- Höhere Verbindlichkeit und Zuverlässigkeit in der Planung
- Weniger OP-Absagen oder Verschiebungen
- Weniger Patientenverlegungen
- Weniger «Fremdlieger»
- Kürzere Verlegungszeiten von der Notfallabteilung auf die Bettenabteilungen
- Kürzere Wartezeiten auf Untersuchungen für Patienten
- Weniger Zeit und Aufwand um Betten zuzuweisen
- Planung orientiert am Patientenfluss statt individueller Agenden
- Bessere Qualität der Versorgung
- Keine paradoxalen Wirkungen im System (z.B. OPS Auslastung vs. Bettenauslastung)