Lean gibt der Medizin die Seele zurück - Interview im Klinoptikum 2/21
Seit Februar 2021 arbeitet das Grazer Team der Bettenstation der klinischen Abteilung für Endokrinologie und Diabetologie nach Lean. Thomas Pieber, Stefan Kaier und Vincenza Mantellini berichten über die ersten Erfahrungen mit dem neuen Managementsystem und erzählen, warum es jetzt auf der Station ruhiger geworden ist und warum sie sich ein Arbeiten nach Lean-Prinzipen nicht mehr vorstellen könnten.
Dieser Artikel von Gerda Reithofer ist im Klinoptikum (2/21), dem Magazin des LKH-Univ. Klinkum Graz erschienen (Seiten 6 - 11). Alle Fotos © K. Remling/LKH-Univ. Klinikum Graz.
Woran merken Sie, dass Sie auf einer Lean-Station arbeiten?
Univ.-Prof. Dr. Thomas Pieber: Am meisten macht sich Lean in der Struktur bemerkbar. Alle Abläufe sind sehr strukturiert, was viel Klarheit und Transparenz für alle bringt. Dadurch bleibt mehr Zeit für die Kernprozesse der Medizin. Der „Sparsamkeitsgedanke“ in Hinblick auf die Organisation ist sehr hilfreich, weil man versucht, Abläufe so zu organisieren, dass man Dinge nicht zwei- oder dreimal angreifen muss, sie aber trotzdem sicher erledigt werden. Für mich ist auch entscheidend, dass durch Lean erstmals Qualitätssicherung und Risikomanagement erlebbar werden. Das waren bis dato eher theoretische Konstrukte, also Unterlagen, die irgendwo in Ordnern abgelegt wurden. Wenn es dann ein Audit gab, las man sich das vorher durch und dachte, eigentlich echt klug, was da drinsteht. Es blieb aber immer ein Zukunftsbild, das man irgendwann einmal umsetzen wird.
DGKP Stefan Kaier: Meiner Meinung nach macht sich Lean bei den Patient*innen bemerkbar. Meine Kolleg*innen und ich verbringen jetzt viel mehr Zeit mit ihnen am Patientenbett. Mit dem Pflegewagen sind wir mit allen Daten direkt beim Patienten und die Pflegedokumentation findet gleich vor Ort in der elektronischen Fieberkurve statt. Auch die Patient*innen sind zufriedener, weil sie mehr wissen, beispielsweise welche Untersuchungen anstehen und wer für sie zuständig ist. Man darf aber nicht erwarten, dass die Dokumentation durch Lean weniger wird, sie erfolgt einfach mehr beim und mit dem Patienten.
Vincenza Mantellini: Ich arbeite erst seit einem guten Jahr am LKH-Univ. Klinikum Graz und komme ursprünglich aus der Baubranche. Kurz nachdem ich hier zu arbeiten angefangen habe, wurde mit der Umstellung auf Lean begonnen. Das war für mich sehr spannend und ich habe auch an einigen Kursen teilgenommen. Besonders gefreut hat mich, dass Experten aus der Schweiz den Prozess begleitet haben, da konnte ich als gebürtige Schweizerin wieder einmal Schwyzerdütsch reden. Seit der Lean-Umstellung gibt es mehr Struktur. Alles läuft nach Plan ab und ist übersichtlich auf Tafeln aufgeschrieben. Von meinem Arbeitsplatz hier am Pflegestützpunkt reicht ein Blick auf die andere Seite des Ganges und ich weiß, wer heute Dienst hat, wer wofür zuständig ist etc. – das ist toll und erleichtert meine Arbeit enorm.
Pieber: Lean ist sehr bottom-up, d. h. die Planung er- folgt „von unten nach oben“ und daher funktioniert es so gut. Man legt aber nicht einfach einen Hebel um und dann ist die Station nach Lean organisiert. Lean ist immer ein Weg und mein Team und ich sind hier noch am Anfang. Wir können von anderen, die das schon länger machen, sicher noch viel lernen. Genauso wie wir von unseren Kolleg*innen viel lernen, die jede Menge Ideen haben, was man besser machen könnte, und wir können auch Anregungen von unseren Patienten*innen in unsere Abläufe einbauen.
Würden Sie der Aussage „Einmal Lean, immer Lean“ zustimmen?
Pieber: Ja, dieser Aussage kann ich voll zustimmen. Viele Patienten*innen fürchten sich vor einem Krankenhausaufenthalt, vor allem in einem großen Haus wie dem LKH-Univ. Klinikum Graz. Sie haben Angst, dort nur eine Nummer zu sein. Und wir Ärzt*innen und Pflegepersonen klagen darüber, dass wir zu wenig Zeit für die Patient*innen haben. Das Arbeiten nach Lean-Prinzipien läuft in einer strukturierten und übersichtlichen Art und Weise ab und wir können uns wieder um das kümmern, wofür wir eigentlich da sind – unsere Patient*innen und deren Anliegen. Insofern gibt Lean der Medizin wieder etwas Seele zurück.
Kaier: Ich arbeite lieber auf einer Lean-geführten Station. Die Rückmeldungen der Patient*innen sind durchwegs positiv. Es ist für sie viel angenehmer, wenn sie genau wissen, was mit ihnen passiert, welche Termine sie haben oder welche Untersuchungen bzw. Behandlungen anstehen. Ich bin diplomierter Gesundheits- und Krankenpfleger geworden, um mit Patienten*innen zu arbeiten.
Mantellini: Ich möchte dort arbeiten, wo ich mich wohlfühle und alle als Team gut zusammenarbeiten – unabhängig, ob es Lean gibt oder nicht. Wenn es wieder eine Lean-Station ist, wäre das für mich natürlich leichter, weil ich das Prinzip schon kenne. Einarbeiten muss man sich aber in jeden neuen Bereich – ganz gleich, ob Lean oder nicht.
Ist die Arbeit auf einer Lean-Station befriedigender?
Kaier: Ein ganz klares Ja, weil mehr Zeit für die Patient*innen da ist. Lean macht die Arbeit auch effizienter, weil alle informierter sind, Patient*innen wie Mitarbeiter*innen. Im Zimmer hängt bei jedem Bett ein Patientenboard und jeder sieht, was geplant, was erledigt ist und welche Termine anstehen. Wir haben natürlich die Patienten*innen immer über Untersuchungen etc. informiert. Das wurde dann aber oft wieder vergessen. Jetzt steht es auf einer Tafel, wo es auch die Patient*innen sehen, was hilfreich und beruhigend ist. Und auch wir als Pflegeteam können uns an den Boards orientieren, sehen, was bereits passiert ist, was noch ansteht etc. – alles auf einen Blick.
Wie leicht fällt die Umstellung?
Mantellini: Ich bin beim Prozess, der coroanbedingt etwas länger gedauert hat, mitgewachsen. Am Schluss ging es rasch und als das Board hing, wurde sozusagen der Schalter umgelegt. Ich und auch viele Kolleg*innen haben uns am Handy einige Alarme eingestellt, damit wir die fixen Termine – wie Huddle und Flows etc. – nicht verpassen. Wenn ich nicht dabei sein kann, weil ich beispielsweise gerade mit einem Angehörigen telefoniere, gehe ich danach die Tafeln ab und informiere mich, wer etwas braucht oder wo ich unterstützen kann. Ich muss dafür nicht warten, bis jemand aus dem Pflegeteam Zeit hat, um mich zu informieren. Das ist angenehm und gibt mir Sicherheit, damit ich weiß, wo ich gebraucht werde und was zu tun ist. Das heißt aber natürlich nicht, dass keiner mehr mit mir spricht!
Kaier: Für mich war die Umstellung ganz leicht, sicher auch, weil ich im Projektteam war und von Anfang an mitbekommen habe, was und wie wir arbeiten wollen. Bei manchen im Team hat es anfangs etwas Überzeugungsarbeit gebraucht, aber schlussendlich haben alle die Umstellung mitgetragen.
Pieber: Seit Februar 2021 ist die Station auf Lean umgestellt, das geht aber nicht von einem Tag auf den anderen. Man muss sich den gesamten Prozess – den sogenannten wertschöpfenden Prozess, der bei uns die Zeit bei den Patient*innen ist – gut durchdenken und neu organisieren. Dann werden die ganzen Instrumente hilfreich. Es reicht nicht, nur ein Huddle oder ein Patientenboard einzuführen, deshalb ist man noch nicht Lean. Das sind nur typische Instrumente, die aber einen entsprechenden Unterbau – das Lean-Thinking – brauchen. Das mussten auch wir erst lernen und das ist die Veränderungsarbeit. Man muss vorab in die Lean-Umstellung Zeit investieren, damit man dann Zeit ernten kann. Wie jeder Veränderungsprozess benötigt auch Lean einen gewissen Aufwand, vor dem sich der Mensch gerne drückt bzw. den er scheut. Die Erfahrung zeigt aber, dass, wenn erlebbar ist, was besser ist, die meisten Mitarbeiter*innen mit Überzeugung dabei sind. Es gibt langjährige, erfahrene Mitarbeiter*innen, die kaum glauben können, wie patientenorientiert wir jetzt arbeiten, was sie sich ihr ganzes Arbeitsleben lang gewünscht haben.
Sie ernten also durch Lean Zeit?
Pieber: Ja, mehr Zeit für die Patient*innen und spürbar mehr Zeit für Medizin. Das heißt aber nicht, dass das Wissen des Einzelnen sich ändert. Wir stellen einfach besser sicher, dass das Wissen auch bei den Patient*innen ankommt. Und es kommt strukturiert bei den Patienten*innen an, so dass diese es auch wertschätzen können.
Strukturierteres und ruhigeres Arbeiten dank Lean – stimmt das?
Kaier: Ja, ganz sicher. Es ist einfach jedem klar – Patient*innen und Kolleg*innen – wer, was, wann und warum zu machen hat. Der Alltag auf der Station läuft dadurch viel ruhiger ab.
Zu den Personen
Der gebürtige Grazer DGKP Stefan Kaier hat 2015 die Ausbildung zum diplomierten Gesundheits- und Krankenpfleger abgeschlossen und arbeitet seitdem auf der Endokrinologie-Bettenstation am LKH-Univ. Klinikum Graz.
Vincenza Mantellini wurde in Bern (Schweiz) geboren und ist auch dort aufgewachsen. Sie ist aber Italienerin aus Apulien. Seit elf Jahren lebt sie in Graz und arbeitet seit Jänner 2020 als Stationssekretärin auf der Endokrinologie-Bettenstation am Klinikum Graz.
Univ.-Prof. Dr. Thomas Pieber wurde in Graz geboren, studierte Humanmedizin an der Karl-Franzens-Universität und ist Facharzt für Endokrinologie und Diabetologie. Von 2004 bis 2008 bekleidete er die Funktion des ärztlichen Direktors am LKH-Univ. Klinikum Graz. Seit 2008 ist er der Leiter der Klinischen Abteilung für Endokrinologie und Diabetologie. Von 2015 bis 2020 war er zusätzlich auch Klinikvorstand der Univ.-Klinik für Innere Medizin.