Konzepte

Integrales Kapazitätsmanagement (IKM): das nächste Wundermittel? (Teil 2)

16.2.2023
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Geschrieben von:
Raphael Roth
und

Die Verbesserung von Planung und Steuerung im Sinne eines integralen Kapazitätsmanagements ist im Moment Teil jedes unserer Kundengespräche - ob mit der Geschäftsführung oder Personen aus den Kernprozessen. Man merkt: Der Druck zu handeln ist da. Und natürlich ist das Potenzial riesig. Das geht schon aus der Definition hervor: »integral» bedeutet, dass die Planung und Steuerung aus Sicht einer ganzen Klinik oder eines ganzen Krankenhauses konzipiert wird und nicht mehr pro Fachbereich oder Plattform. Nur schon deswegen entsteht ein Skaleneffekt – bei einer richtigen und konsequenten Umsetzung. Ein Kunde meinte aber vor kurzem beim Mittagessen: «Ist das nicht einfach wieder der nächste Trend, von dem man sich die Lösung aller Probleme erhofft?» In diesem Artikel zeigen wir, dass mit IKM natürlich nicht einfach alle Probleme verschwinden, dass trotzdem enorm viel mit dem Thema erreicht werden kann. Und für Sie als Leser:in wahrscheinlich noch spannender: Wir startet man die Umsetzung von IKM?

«Hospital Physics»

Der Einstieg in das integrale Kapazitätsmanagement ist einfach, da ein grosser Fundus an Literatur und Evidenz dazu existiert. Wie so oft, kann das Gesundheitswesen von den Erfahrungen anderer Branchen profitieren. Die Pionierbeispiele im Gesundheitswesen selbst gibt es ursprünglich in den USA und in Holland. In beiden Ländern ist das Thema und insbesondere das Konzept «Command Center» als Manifestierung von IKM nicht mehr wegzudenken. Die meisten erfolgreichen Beispiele weisen einige Gemeinsamkeiten auf. Beispielsweise sind es häufig Organisationen, die sich bereits vorher intensiv mit dem Thema Innovation auseinandergesetzt haben. Oft wurde die Lean Philosophie angewandt. Eine weitere Gemeinsamkeit ist Grösse des Erfolgs: die gleichzeitige Erhöhung der Leistungsfähigkeit (Bspw. mehr Leistung mit den existierenden Betten- & OP-Kapazitäten), Reduktion der Auslastung der Mitarbeitenden und Infrastruktur sowie Senkung der Kosten. (Smith et al. 2013 als Beispiel). Das Potenzial wäre wahrscheinlich sogar noch viel grösser. (Quelle: Shrank et al. 2019, Milstein & Shortell 2012)

Kapazitätsmanagement ist eine Unterdisziplin des Operations Managements und beschäftigt sich mit der Planung und Steuerung jeglicher für die Produktion oder Leistungserbringung wichtigen Ressourcen (Kapazitäten). Im Grundsatz geht es darum, Nachfrage und Angebot einer Organisation ideal aufeinander abzustimmen. Genau hier liegt auch eine der Schwierigkeiten bei der Umsetzung im Gesundheitsweisen: sowohl Nachfrage als auch Angebot weisen eine hohe Variabilität aus. IKM basiert auf mathematischen Gesetzmässigkeiten, die unabhängig von Methodik und subjektiver Präferenz gelten. Was dies branchen-unabhängig bedeutet, wurde im Klassiker «Factory Physics» prägnant dargelegt. (Quelle: Hopp & Spearman 2008)

Viele dieser Gesetzmässigkeiten und Prinzipien lassen sich auf das Gesundheitswesen übertragen. Es gibt also so etwas wie «Hospital Physics» - grundlegende mathematische Gesetze, die für die Planung und Steuerung von Krankenhäusern gelten. Ein einfaches Beispiel dafür ist das Gesetz von Little: der Zusammenhang von Throughput, Work-in-Progress & Lead Time. Stark vereinfacht sagt es aus, dass Flusseffizienz also der Blick auf den Patientenfluss entscheidender ist als Ressourceneffizienz. Oder anders ausgedrückt: wenn man in einem System stark auf einzelne Ressourcen fokussiert, geht das zu Lasten der Gesamtperformance.

Ressourcen- und Flusseffizienz
Ressourcen- und Flusseffizienz (Quelle: Modig & Ahlström, 2015, Schneider 2020, Rutherford et al. 2020)[/caption]

Diese Grafik vom Johns Hopkins Hospital zeigt dies eindrücklich. Je höher die Auslastung der Betten ist, desto länger ist die Aufenthaltsdauer auf der Notaufnahme. Dank der Optimierung mit IKM und dem Einsatz eines Hospital Command Centers, mit dem Fokus auf Patientenfluss, konnte die Aufenthaltsdauer von stationären Notfalleintritten auf der Notaufnahme trotz hoher Bettenauslastung deutlich reduziert werden. Also erreichten sie eine höhere Ressourceneffizienz und gleichzeitig eine höhere Patientenflusseffizienz!

Median Boarding Hours vs operational occupancy
Auslastung & Aufenthaltsdauer in der Notaufnahme (Quelle: Kane et al. 2019)[/caption]

Eine Veränderung des Mindsets

Die Argumentation Fluss- vor Ressourceneffizienz verdeutlicht wie gross der Unterschied zur aktuellen Realität ist. Um das volle Potenzial des Themas auszuschöpfen, braucht es einen grundsätzlichen Wandel des Mindsets. Klassische Ziele wie zum Beispiel eine hohe Bettenauslastung bei gleichzeitiger hoher OP-Auslastung, minimalen Wechselzeiten, pünktlichem ersten Schnitt und Grundsätze wie Austritt bis 10 Uhr müssen hinterfragt werden. Korrelieren diese Zielsetzungen wirklich mit Leistungsfähigkeit und Rentabilität?

Benötigte Überkapazität personeller Ressourcen bei unterschiedlichen Variablitäten (Quelle: eigenes Projekt)[/caption]

Dieses Beispiel aus unserer Projektarbeit zeigt, welche Auswirkungen eine nicht abgestimmte Planung von OP und Betten hat. In diesem Fall führt es zu grossen Schwankungen in der Auslastung der Betten und zu einem grossen Bedarf an «Überkapazitäten» auf Seiten des benötigten Personals. Und: je grösser die Schwankungen (Variabilität) desto grösser der Bedarf an Überkapazität und desto höher die gefühlte Auslastung der Mitarbeitenden vor Ort.

Zudem sind sie Auslastungsziele auch nicht patientenorientiert. Um die Bettenauslastung hoch zu halten, kann es sich durchaus lohnen, Patienten länger als nötig zu «behalten». IKM orientiert sich hingegen am Patientenfluss: Ab wann ist es sinnvoll, Patienten zu entlassen? Damit werden den bekannten Trends wie der Sogwirkung von leeren Betten (Wenn ein Bett frei ist, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass ein Notfallpatient hospitalisiert wird) oder der Komplexität des Austrittmanagements Rechnung getragen.

Eine Generationen-Aufgabe, «Quick-Scan»: die Grundlagen legen

Doch wie erreicht man den idealen «Flow»? Was ist der richtige Start in die Transformation in Richtung des integralen Kapazitätsmanagements? Das fiktive Beispiel des Krankenhaus Gelb zeigt dies. Das Krankenhaus leidet gleichzeitig unter hohen Kosten, zu wenig Betten (obwohl gemäss der Statistik noch «Luft im System» sein müsste), einen starken Anstieg an Notfallpatienten und vielen Personalausfällen. Ein «Quick-Scan» (Vorstudie) zeigt die Leistungsfähigkeit des Systems und dessen Probleme auf. Interviews, Begehungen vor Ort und Datenanalysen zeigen welche Grundursachen hinter den beobachteten Problemen stecken. Die Geschäftsleitung entscheidet basierend darauf über die Ziele des IKM: Was soll für Patienten erreicht werden? Was für die Mitarbeitenden? Was steht im finanziellen Fokus? Das ist die Basis der Transformation, die in mehreren Generationen geplant wird.

Generation 1, «Stabilität»: OP- & Bettenmanagement

In einem ersten Schritt werden über mehrere Monate hinweg die Stabilität des Tagesmanagements auf allen Plattformen verbessert, eine Leitstelle geschaffen, die sowohl OP- und Bettenmanagement umfasst, übergreifend geltende Planungsregeln aufgestellt und eine ausgewählte Plattform tiefgreifend optimiert. Das Krankenhaus Gelb nimmt sich dafür die Tagesklinik vor. Hier besteht nämlich eine grosse Chance, die weiteren Plattformen durch einen vereinheitlichten Eintrittsprozess zu optimieren.

Generation 2, «Transparenz und datenbasierte Entscheidungen»: digitale Unterstützung

Das Krankenhaus Gelb hat ambitionierte Ziele in Richtung Digitalisierung. Diese stocken jedoch und gehen nicht wie gewünscht vorwärts. Aus diesem Grund entscheidet sich das Krankenhaus für IKM eine «digitale Modelzelle» zu starten. Das bedeutet, dass alle relevanten Operations Daten aggregiert und in der bereits geschaffenen Leitstelle visualisiert werden. Mit Hilfe künstlicher Intelligenz werden ebenfalls Prognosen über das Patientenaufkommen der nächsten Tage und Wochen ermöglicht. Zur Unterstützung wählt Krankenhaus Gelb die Software eines holländischen Anbieters. Diese ermöglicht zudem Simulationen, die aufzeigen, was Veränderungen im Prozesse bspw. die Veränderung eines OP-Slots für die Bettenverfügbarkeit auf den betroffenen Abteilungen bedeuten. Grundsätzlich geht IKM auch ohne digitale Unterstützung. Es gilt jedoch: Je grösser ein Krankenhaus, desto grösser der Nutzen und die Hebelwirkung durch eine digitale Komponente für IKM.

Generation 3 «Von Wissen zu prospektiver Steuerung»: zentrale Planung und Evidence-based Staffing

Nach dem grossen Erfolg der ersten beiden Generationen entscheidet sich das Krankenhaus Gelb in der nächsten Phase dafür, alle Aspekte der Patientenplanung (Diagnostik, Sprechstunden, Therapien, etc.) zentral zu unterstützen und damit das Kerngeschäft weiter zu entlasten. Zudem rückt die Personalplanung in den Fokus. In der Pflege wird anvisiert, mit prospektiven Patient-to-Nurse Ratios zu arbeiten, um die Arbeit aufwandgerecht zu verteilen. Aufgrund einer Reihe von Indikationen (bspw. BMI, IPS-Wahrscheinlichkeit, Anzahl Transporte pro Patient, uvm.) wird ein neuer Score zu Evaluation des Arbeitsaufwandes eingeführt und für die prospektive Personaleinsatzsteuerung genutzt.

Generation X: kontinuierliche Entwicklung und Digitalisierung

für die weiteren Generationen werden jeweils einzelne Aspekte ausgewählt. Hier gibt es eine grosse Auswahl von der Optimierung aller Plattformen, der Optimierung ausgewählter Patientenpfade gemäss ihren benötigten Kapazitäten bis hin zu Digitalisierungsmöglichkeiten bspw. von Hilfsmitteln, die Sitzwachen ersetzen bzw. unterstützen oder Instrumente zur besseren Terminplanung. Dazu werden klinische Patientendaten stärker integriert, um gleichzeitig das Patientenflussmanagement weiter zu optimieren und die Patientensicherheit zu verbessern.

Das Beispiel ist fiktiv, basiert aber auf unseren Erfahrungen in der Praxis und dürfte in den meisten Fällen unabhängig der Grösse eines Krankenhauses sinnvoll sein. Entscheidend ist dabei, dass die Mitarbeitenden aus den Kernprozessen mi tinvolviert werden und verstehen, warum IKM angewandt wird und wie die erarbeiteten Planungsmechanismen funktionieren. Deswegen ist die richtige Methodenwahl wie beispielsweise Lean und Design Thinking entscheidend. (Quelle: Vetterli, Roth 2022) Denn auch wenn IKM viel mit Daten und Mathematik zu tun hat – schlussendlich geht es darum, die Leistungen für die Patienten zu verbessern und den Mitarbeitenden den Alltag zu erleichtern. Oder mit den Worten von Prof. Don Berwick, dem früheren Präsidenten vom Institute for Healthcare Improvement:

«Flow is every bit as consequential for the health of our systems and the wellbeing of our patients and deserves the same strategic prioritization as safety.» (Quelle: Rutherford et al. 2020)

Quellen

Re-engineering the operating room using variability methodology to improve health care value. C. Smith, T. Spackman, K. Brommer, M. Stewart, M. Vizzini, J. Frye, W. Rupp. J Am Coll Surg. 2013 Apr;216(4):559-68

Waste in the US Health Care System. Estimated Costs and Potential for Savings. W. Shrank, T. Rogstad, N. Parekh in: JAMA. 2019 Oct 15;322(15):1501-1509.

Innovations in Care Delivery to Slow Growth of US Health Spending. A. Milstein, S. Shortell in JAMA. 2012 ;308(14):1439-1440.

Factory Physics: Foundations of Manufacturing Management. W. Hopp, M. Spearman, 2008

Das ist Lean. Die Auflösung des Effizienz-Paradoxons. N. Modig, P. Ahlström, 2015

Integral Capacity Management & Planning in Hospitals. T. Schneider, 2020

Achieving Hospital-wide Patient Flow. P. Rutherford, A. Anderson, U. Kotagal, K. Luther, L. Provost, F. Ryckman, J. Taylor . IHI White Paper. Boston, Massachusetts: Institute for Healthcare Improvement; 2020

Use of Systems Engineering to Design a Hospital Command Center. E. Kane, J. Scheulen, A. Püttgen, D. Martinez, S. Levin, B. Bush, L. Huffman, M. Jacobs, H. Rupani, D. Efron. Jt Comm J Qual Patient Saf. 2019 May;45(5):370-379.

Managing Unnecessary Variability in Patient Demand to Reduce Nursing Stress and Improve Patient Safety. Eugene Litvak, Peter I. Buerhaus, Frank Davidoff, Michael C. Long, Michael L. McManus, Donald M. Berwick, The Joint Commission Journal on Quality and Patient Safety, Volume 31, Issue 6, 2005,

Design Thinking as catalyst for a hospital Operation Centre”. Dr. C Vetterli, R. Roth. in: “Service Design Practices for Healthcare Innovation”. Edited by: M. Pfannstiel, N. Brehmer, C. Rasche. Springer, 2022

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