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Ein neues Praxiskonzept in der Hausarztmedizin – Teil 2

13.7.2024
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Geschrieben von:
Stefan Märke
und

Nun galt es, die im 1. Teil formulierten Ideen in konkrete Abläufe, ein Raumlayout und passende IT-Anforderungen zu übersetzen.

Dank Prototyping werden abstrakte Ideen konkret und räumliche Anforderungen klar

Diese abstrakten Ideen galt es nun in konkrete Abläufe, ein Raumlayout und passende IT-Anforderungen zu übersetzen. Der mit der Lean-Philosophie verwandte Ansatz des Integrated-Facility-Designs bedeutet auch, dass bei Bauvorhaben zu einem früheren Zeitpunkt mehr Ressourcen ins Design investieret werden und die Prozesse Hand in Hand mit dem Raumlayout zu entwickeln. Dieser Ansatz verspricht einerseits tiefere Baukosten, da weniger oft nachträgliche Änderungen notwendig sind, und andererseits effizientere Abläufe im Betrieb [1] . Dementsprechend haben wir aus einem Teil des Praxisteams ein Projektteam, bestehend aus MPAs und Ärztinnen und Ärzten der Berner Praxis und Personen des Sanacare-Hauptsitzes zusammengestellt, welches gemeinsam das neue prozessuale und räumliche Praxiskonzept entwickelt hat.

An den Design-Workshops beteiligten sich auch der Architekt und IT- Fachpersonen. Bewusst wurde eine diverse Zusammensetzung gewählt, da dies der Innovationskraft von Design Teams zuträglich ist [2, 6].

Begleitet durch die Herren Ch. Vetterli und St. Märke (Vetterli Roth & Partners) starteten wir die sogenannte Makro-Design-Phase. Diese Phase zeichnet sich dadurch aus, dass Ideen gesammelt, erste Hypothesen prototypisiert, die entstehenden Lösungen auf ihre Praxistauglichkeit überprüft werden und die gewonnen Erkenntnisse in wiederum verbesserten Lösungen münden – entlang der Innovationslogik von «Design Thinking» (Abb. 1). Über zahlreiche Iterationen findet ein schneller Wissensaufbau statt und dadurch entstehen zunehmend bessere und praxistaugliche Lösungen [3], während gleichzeitig Risiken minimiert und der Gesamtprozess beschleunigt wird [4].

Darüber hinaus hat die Arbeitsweise mittelfristig positive Effekte, wie beispielsweise eine subjektiv bessere Arbeitskultur [4]. Dadurch, dass die späteren Anwenderinnen und Anwender ihre Lösung in einem geführten Prozess selbst entwickeln, entstehen auf die jeweilige Situation massgeschneiderte Lösungen und ein tiefes gemeinsames Verständnis der Zukunft, was die spätere Umsetzung erheblich erleichtert [4–6]. Es ist ein Lern- und Entwicklungsprozess, geprägt durch gemeinsames Verstehen, Prototypisieren, Testen und Verbessern.

Dabei folgten wir dem Grundsatz «Patient first» – die medizinischen Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten sollen an erster Stelle kommen, die Prozesse sich am Patientenfluss orientieren und dadurch verschwendungsarm sein [7]. Die Lösungsentwicklung folgt somit der Wertschöpfungslogik aus Patientensicht.

Mitunter der wichtigste Schritt in diesem Vorgehen ist das Prototyping (Abb. 2): die unmittelbare anfassbare Umsetzung der Ideen und deren schrittweise Detaillierung und Weiterentwicklung. Mit einfachen Hilfsmitteln, wie beispielsweise Stellwänden, Tischen, Liegen oder Kartonkisten werden in einem geeigneten Raum gemeinsam Praxisräume modelliert und Praxisabläufe getestet. Der Prototyp bildet eine allen zugängliche Diskussionsgrundlage. Dadurch lassen sich Fehlentwicklungen früh erkennen und verschiedene Lösungsvarianten vergleichen. Auch wenn ein solches Mock-Up eine starke Abstraktion darstellt, ist es eine sehr wirksame und kosteneffiziente Methode, um beispielsweise störungsarme Prozesse zu entwickeln oder unpraktische Raumanordnungen zu vermeiden [8].

Testen mit Personas und «echten» Patientinnen und Patienten

Mittels Simulationen wurde der Prototyp einem Realitätscheck unterzogen und die ausgeheckten Ideen erlebt und weiterentwickelt. Dabei ist es wichtig, sich in konkrete Situationen im Alltag hineinzuversetzen und die Patientenperspektive einzunehmen. Grundlage dafür sind die Abstraktion von Eigenschaften häufiger Patientengruppen als fiktive Einzelpersonen, sogenannte «Persona» mit unterschiedlichen Bedürfnissen [3]. Bei Menschen mit akuten einfachen medizinischen Problemen stehen andere Bedürfnisse im Vordergrund als bei Menschen mit akuten komplexen Erkrankungen. Wiederum differenzieren sich diese Bedürfnisse von denjenigen der Menschen mit chronischen Erkrankungen.

Zur finalen Überprüfung des Prototyps werden schliesslich «echte» Patientinnen und Patienten eingeladen, die den Prozess durchlaufen, ihr Erlebnis schildern und kritisch beurteilen, was wiederum weitere Anpassungen erlaubt.

Das Ergebnis: das Konzept der Sanacare Gruppenpraxis in Bern

Wie präsentiert sich nun die Sanacare Gruppenpraxis in Bern (Abb. 3)? Die Praxis gliedert sich in verschiedene Funktionseinheiten: Ein Hauptempfangs- und Administrationsbereich, ein Diagnostikbereich und zwei Sprechstundenbereiche mit je einem interdisziplinären Team.

Standardisierung schafft Sicherheit, Zuverlässigkeit und Flexibilität. Abweichungen fallen sofort auf. Um Laufwege zu sparen werden die Blutentnahmen und die Medikamente per Rohrpost zur Analyse resp. Abgabe in den entsprechenden Praxisbereich geschickt. Die medizinischen Leistungen werden interprofessionell erbracht. Alle Mitarbeitenden arbeiten kompetenzbasiert. Auch die Chronic-Care-Management Coachin fügt sich in den gleichen Arbeitsmodus ein.

Dank dem IT- und Informationsfluss können sich die Mitarbeitenden an allen Computern einfach und schnell einloggen und dort weiterarbeiten, wo sie am letzten Gerät aufgehört haben. Man kann von jeder PC-Station aus auf die Patientenakte und auf digital verfügbare Fachinformationen zugreifen. Die Ablauforganisation ist darauf ausgerichtet, dass die Kommunikation zwischen Ärztin oder Arzt und MPA problemlos möglich ist. Dies ist Voraussetzung, um die Räumlichkeiten wie oben beschrieben maximal flexibel nutzen zu können.

Schlussfolgerungen und Erkenntnisse

Das beschriebene Praxiskonzept erfordert eine grosse Anpassungsbereitschaft des gesamten Teams. Ein detailliertes Praxisbetriebskonzept mit Arbeitsplatz-, Aufgabenzuteilung und Teamzusammenstellung in den einzelnen Funktionseinheiten gibt die Leitplanken für einen zufriedenstellenden Praxisbetrieb vor. Der direkte Einbezug des Teams in den Innovationsprozess erleichtert die späteren Veränderungen. Den restlichen Teammitgliedern werden anlässlich den Team-Sitzungen die Lösungsideen vorgestellt und es wird Raum für Fragen gelassen, welche dann vom Projektteam aufgenommen und am nächsten Simulationstag bearbeitet werden können. Durch dieses Vorgehen haben wir ein tragfähiges Fundament für den gemeinsamen Einstieg in den neuen Praxisbetrieb geschaffen. Für die weiteren fortlaufenden Optimierungen nutzen wir das Kaizen-Board, auf welchem alle Teammitglieder erkannten Probleme, inklusive Lösungsvorschlägen anbringen können. Anlässlich den Teamsitzungen werden diese Vorschläge besprochen, umgesetzt oder weiterentwickelt.

Eine anonyme Patientenumfrage zum Erlebnis des Praxisbesuchs hat ein erfreuliches Resultat ergeben. Die Patientinnen und Patienten fühlen sich gut geleitet, aufgehoben und erleben die Praxisatmosphäre als ruhig. Die Beurteilung der Wartezeiten hat sich verbessert.

Unser Team hat mittlerweile eine Grösse von über 30 Personen und das Konzept ist durch seine Modularität auch bei einem weiteren Praxiswachstum skalierbar – und damit anwendbar.

Hier gehts zum Teil 1 ...

Literatur:

1. Pelly N, Zeallear BB, Reed M, Martin L. (2013). Utilizing Integrated Facility Design to Improve the Quality of a Pediatric Ambulatory Surgery Center. Pediatric Anesthesia. pp. 1–5 https://doi.org/10.1111/pan.12195. 2. Vetterli C, Leifer L. (2021). Design Thinking. In Angerer, A. (Hrsg.) (2021). New Healthcare Management: Erfolgreich Organisationen gestalten und managen. Berlin: Medizinisch Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft 3. HPI D-School. Die sechs Schritte im Design Thinking Innovationsprozess. https://hpi.de/school-of-design-thinking/design-thinking/hintergrund/design-thinking-prozess.html Abgerufen am 13. November 2023. 4. Gerken, S., Uebernickel, F., & De Paula, D. (2022). Design Thinking: a Global Study on Implementation Practices in Organizations: Past-Present-Future. Universitätsverlag Potsdam. 5. Vetterli C, Schmelzer P. (2023): The Approach of Design Sprints in Healthcare Transformation In: Pfannstiel, M.A. (Hrsg.) (2023). Human-Centered Service Design for Healthcare Transformation: Heidelberg: Springer Nature. https://doi.org/10.1007/978-3-031-20168-4_16. 6. Liedtka J. “Evaluating the Impact of Design Thinking in Action.” Academy of Management Proceedings. Vol. 2017. No. 1. Acad Manage J. 2017. 7. Hollenstein E, Marquard J, Steiner M, Angerer A. Potenziale von Lean Management in der Hausarztmedizin. Schweiz Arzteztg. 2020;101(27–28):865–7. 8. Health Quality Council of Alberta. (2020). Healthcare Facility Mock-up Evaluation Guidelines: Using Simulation to Optimize Return on Investment for Quality and Patient Safety. Calgary, Alberta, Canada.

Autoren:

Markus Steiner - Dr. med. EMBA, Leitung Gruppenpraxen, Sanacare AG

Stefan Märke - M.A., Manager bei Vetterli Roth & Partners AG

Quelle:

PRIMARY AND HOSPITAL CARE - Die Zeitschrift für Allgemeine Innere Medizin in Hausarztpraxis und Spital.  Ausgabe 5, 8. Mai 2024.

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