Ein neues Praxiskonzept in der Hausarztmedizin – Teil 1
Am Beispiel des neuen Praxiskonzepts unseres Gruppenpraxismitglieds Sanacare wird in dieser zweiteiligen Artikelserie aufgezeigt, wie eine grosse Gruppenpraxis sich weiterentwickelt, neu organisiert und sich so fit für die Zukunft macht. Teilaspekte sind sicherlich auch für kleinere Praxen interessant und können inspirieren und neue Ideen anstossen.
Als politischer Berufsverband engagiert sich mfe dafür, dass die Rahmenbedingungen für verschiedene und zukunftstaugliche Praxismodelle gegeben sind. Nicht nur die Patientinnen und Patienten, auch die Hausarztpraxen müssen «fit» gehalten werden.
In einer hausärztlichen Praxis gehören vielseitige Probleme und Erwartungen der Patientinnen und Patienten zum Praxisalltag und stellen unterschiedlichste Anforderungen an die Menschen, die Abläufe und die Infrastruktur. Der Alltag gestaltet sich für alle Beteiligten herausfordernd: Am Empfang und im Labor kommt es oft zu Wartezeiten und das Wartezimmer ist stark besetzt. Das medizinische Personal erlebt während seiner Tätigkeit zahlreiche Unterbrüche durch Telefonate, zu klärende Fragen oder IT-Probleme.
Hinzu kommen die Wege, die das Praxispersonal und die Patientinnen und Patienten in den Praxisräumen zurücklegen müssen, was ebenfalls Zeit erfordert und zu Engpässen führen kann. In Anlehnung an unser Projekt «Potenziale von Lean-Management in der Hausarztmedizin» [1] hat die Sanacare Gruppenpraxis Bern ein neues Praxisbetriebskonzept entwickelt und anlässlich des Praxisneubaus eine darauf abgestimmte Infrastruktur realisiert.
Ein zukunftsweisendes Praxiskonzept vor Augen
Traditionellerweise ist der Empfang einer Arztpraxis der Knotenpunkt, an welchem die Patientinnen und Patienten mit ihren Anliegen empfangen, Termine und Medikamente abgegeben und oft auch Telefonate getätigt werden. Während des Praxisaufenthaltes bewegen sich die Patientinnen und Patienten zwischen Wartezimmer, Sprechzimmer, Labor und Diagnostikräumen. Unsere Erfahrung zeigt, dass sich dieses klassische Praxiskonzept nicht problemlos auf eine grosse Gruppenpraxis übertragen lässt. Ab einer gewissen Grösse wird es unübersichtlich und zunehmend schwierig, die zahlreichen parallelen Abläufe aufeinander abzustimmen. Mit der neuen Praxis, welche 16 Behandlungszimmer und zwei Diagnostikräume umfasst, schien diese Grenze überschritten zu sein und es galt ein neues Praxiskonzept zu entwickeln.
Das bedeutete auch, sich von den vertrauten Gewohnheiten zu lösen. Damit dies gelingt, bräuchte es als Erstes die Definition von gemeinsamen Zielen. Für eine konsequent patientenzentrierte Ausrichtung müssen auch die Architektinnen und Architekten von Beginn weg einbezogen sein, damit die Praxisprozesse und die Innenarchitektur aufeinander abgestimmt sind. Auch die Informatikerinnen und Informatiker müssen früh ins Boot geholt werden, damit die Erwartungen an die digitale Kommunikation formuliert und gelöst werden können.
Folgende Ziele standen für das neue Praxiskonzept im Vordergrund:
- Patientenorientierung:
Die stabile Arzt-Patienten-Beziehung soll gewährleistet und die Abläufe einfach sein, um den Patientinnen und Patienten das Gefühl zu vermitteln, gut aufgehoben zu sein. Sie sollen kaum bemerken, dass sie sich in einer grossen Praxis befinden. - Mitarbeitende:
Die Mitarbeitenden denken und handeln interprofessionell, treffen kompetenzbasiert Entscheide, übernehmen Verantwortung und entwickeln die Praxisprozesse weiter. Das Arbeitsklima soll angenehm und abwechslungsreich sein. Der fachliche Austausch wird gefördert. - Praxisleitung:
Die Praxisleitung ist transparent. Dezentralisierte Entscheidungskompetenzen im Rahmen des Praxisbetriebskonzeptes, Innovationen und die Weiterentwicklung der Praxisprozesse werden gefördert. - Sicherheit und Qualität:
Die Abläufe sollen einfach gehalten und nach Möglichkeit standardisiert sein. Aufgaben werden sofort erledigt, Doppelspurigkeiten und Schnittstellen werden vermieden. Die Wege für Mitarbeitende und Patientinnen und Patienten sind kurz. Die Abläufe garantieren die Einhaltung der regulatorischen und datenschutzrechtlichen Vorgaben. Die Prozesse sind transparent. - Wirtschaftlichkeit:
Die vorhandenen Ressourcen sollen durch die hohe Flexibilität und mobiles Arbeiten optimal und wertschöpfend genutzt werden. Die nivellierte Auslastung von Mitarbeitenden wird gefördert. Die Menschen- und Kommunikationsflüsse sind effizient.
Lean-Prinzipien beeinflussen die Arbeitsweise in einer Praxis
In der Literatur finden sich zahlreiche Beispiele dafür, dass Lean-Gestaltungsprinzipien die Wartezeiten verringern [2], die Qualität verbessern [3] oder die operative Effizienz steigern [4] können. Auch finden sich Hinweise darauf, dass nach Lean-Prinzipien gestaltete Abläufe und eine entsprechende Kultur die Teamarbeit, die Kommunikation und die Koordination verbessern oder die Innovationsfähigkeit der Mitarbeitenden signifikant erhöhen [5].
Vor diesem Hintergrund entschieden wir uns, dass wir uns bei der Gestaltung der zukünftigen Praxisabläufe ebenfalls an den Ideen des Lean Managements orientieren wollen, um eine gute Basis für eine zielgerichtete, effiziente Diskussion über die zukünftige Arbeitsweise und die räumlichen Implikationen zu haben.
Lean ist eine Management-Philosophie und eine Basis für eine Kultur der kontinuierlichen Verbesserung. Die Menschen, das heisst die Patientinnen und Patienten und die Mitarbeitenden, stehen im Mittelpunkt. Qualität, Sicherheit und die Wirtschaftlichkeit werden ebenso berücksichtigt. Lean bedeutet auch, auf die für diese Menschen wesentlichen Dinge zu fokussieren und alles Unnötige wegzulassen, um die Komplexität zu reduzieren. Gleichzeitig werden durch einheitliche Vorgehensweisen und dank einer cleveren Planung ungewollte Improvisationen vermieden. Nichtsdestotrotz sollen letztlich Strukturen geschaffen werden, die in Ausnahmesituationen Flexibilität und eine rasche Reaktion erlauben.
Wie hat das involvierte Praxisteam die Veränderung erlebt?
- Welche sind die grössten Veränderungen im neuen Praxisbetrieb im Vergleich zu einer herkömmlichen Praxis?
– keine fix zugeteilten Sprechzimmer, was eine optimale Zusammensetzung des Behandlungsteams (Ärzte/Ärztinnen, MPA’s, CCM- Coach) und Zuteilung der Räumlichkeiten erlaubt;
– effizientere Sprechstundengestaltung durch die Möglichkeit das Behandlungszimmer bei Erfordernis zu wechseln;
– Aufteilung der Praxisräumlichkeiten in Behandlungs- und Diagnostikbereiche wo die anfallenden Aufgaben abschliessend erledigt werden, wodurch es beispielsweise zu weniger Unterbrüchen des geplanten Programmes im Diagnostikbereich kommt. Drei Wartebereiche je nach Konsultationsgrund. - Was erleben Sie im neuen Praxisbetrieb als besonders wertvoll bzw. wo ist der grösste Mehrwert im Praxisalltag spürbar?
– ruhiger Praxisbetrieb durch die Steuerung der Patienten- und Mitarbeitendenwege;
– keine Engpässe mehr am Empfang und im Diagnostikbereich, keine überfüllten Wartezimmer mehr;
– engere Teamzusammenarbeit in wechselnder Zusammensetzung von Ärztinnen/Ärzten und MPA’s. Abwechslungsreicher Praxisalltag für die MPA’s. - Gibt es Dinge, die sie im Nachhinein anders planen und gestalten würden? Was vermissen Sie aus der «alten» Zeit?
– keine, das Planungskonzept bewährt sich. - Welche Rückmeldungen von Patientinnen und Patienten zum neuen Praxiskonzept haben sie besonders gefreut?
– angenehme Praxisatmosphäre in einer Grosspraxis;
– diagnostische Untersuchungen anlässlich einer Konsultation werden direkt im Behandlungsbereich durchgeführt, sodass ein hin und her wegfällt und auch die Wartezeiten kürzer sind;
– es fällt den Patientinnen und Patienten auf, dass die Organisation der Abläufe sehr effizient ist. - Gab es auch kritische Rückmeldungen seitens des Teams/der Patientinnen und Patienten?
– nein, kritische Rückmeldungen haben wir keine erfahren;
– einzelne Patientinnen und Patienten mussten sich daran gewöhnen, dass sie nicht immer im gleichen Sprechzimmer behandelt werden;
– die Behandlungskontinuität wird durch das Team gewährleistet, was positiv wahrgenommen wird. - Welche Aspekte dieses Konzeptes sind aus Ihrer Sicht auch für kleinere Praxen sinnvoll?
– prioritär Durchdenken und Ausprobieren möglichst optimaler Praxisabläufe; sekundär die erforderlichen baulichen/raumgestalterischen Massnahmen vornehmen
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Literatur:
1. Hollenstein E, Marquard J, Steiner M, Angerer A. Potenziale von Lean Management in der Hausarztmedizin. Schweiz Arzteztg. 2020;101(27-28):865–7. 2. Souza DL, Korzenowski AL, Alvarado MM, Sperafico JH, Ackermann AE, Mareth T, et al. (2021). A systematic review on lean applications’ in emergency departments. In Healthcare (Vol. 9, No. 6, p. 763). MDPI. 3. Improta G, Balato G, Romano M, Carpentieri F, Bifulco P, Alessandro Russo M, et al. Lean Six Sigma: a new approach to the management of patients undergoing prosthetic hip replacement surgery. J Eval Clin Pract. 2015 Aug;21(4):662–72. 4. Johnson, Pauline M. DNP; Patterson, Claire J. MS, RD; O'Connell, Mary P. RN, MPA. Lean methodology: An evidence-based practice approach for healthcare improvement. The Nurse Practitioner 38 (12):p 1-7, December 10, 2013. | https://doi.org/10.1097/01.NPR.0000437576.14143.b9. 5. Mahmoud Z, Angelé-Halgand N, Churruca K, Ellis LA, Braithwaite J. The impact of lean management on frontline healthcare professionals: a scoping review of the literature. BMC Health Serv Res. 2021 Apr;21(1):383.
Autoren:
Markus Steiner - Dr. med. EMBA, Leitung Gruppenpraxen, Sanacare AG
Stefan Märke - M.A., Manager bei Vetterli Roth & Partners AG
Quelle: