Lean und Design Thinking in der Psychiatrie
Lean und Design Thinking sind im Gesundheitswesen mittlerweile gesetzte Begriffe. Gerade in der Akutsomatik wurde viel umgesetzt und Begriffe wie Huddles sind alltäglich. Was bedeutet das nun für die Psychiatrie? Wie können Lean und Design Thinking helfen, den Therapieerfolg und die Qualität für die Patient:innen zu verbessern? Wie helfen sie den chronisch überlasteten Mitarbeitenden ihre Arbeit zu vereinfachen und effizienter zu gestalten? Und lassen sich die üblichen Konzepte einfach so übertragen? Die kurze Antwort: natürlich nicht.
Dass Bedarf da ist, ist jedoch klar. Nehmen wir ein Alltagsbeispiel aus dem stationären Setting. Stephanie Hildebrand ist Psychologin und arbeitet seit einem Jahr in einer kantonalen psychiatrischen Institution. Ihre Woche ist durch Rapporte, Einzelgespräche, Gruppentherapien und Administration geprägt. Viel Administration. Es gibt so viel Informationen, die entweder schriftlich oder mündlich kommuniziert werden wollen. Es darf ja nichts Wichtiges untergehen. Das heisst Stephanie setzt alles daran, dass diese auch bei den richtigen Personen und vor allem bei den Patient:innen ankommen. Das ist jedoch nicht ganz einfach. Das KIS kennt sie mehr schlecht als recht. An ihrem ersten Arbeitstag hat sie eine kurze Einführung erhalten. Aber seither lautet der Modus «Learning by Doing» und sie hat sich ihre eigenen Umgehungsstrategien für das mühsame System zurechtgelegt.
Heute ist Donnerstag und es findet ein Therapieplanungsrapport mit allen Beteiligten statt. Da sie 80% ist sie am Mittwoch leider nicht vor Ort. Das heisst, sie muss sich zuerst einmal auf den neuesten Stand bringen, was am Vortag passiert ist. Das macht sie durch Einlesen in die Patientendokumentationen. Doch diese sind nicht einheitlich gestaltet und es ist nicht einfach, schnell die relevanten Informationen zwischen den Einträgen wie beispielsweise «War in der Nacht ruhig» zu finden. Zudem fragt sie bei einigen Kolleg:innen nach.
Danach folgt der Rapport. Es werden alle Patient:innen auf der Station besprochen. Wirklich spannend ist es für Stephanie aber nur bei ihren Eigenen, das heisst bei knapp einem Drittel. Bei den anderen schweift sie gedanklich ab und fragt sich, wie es denn für die Kunsttherapeutin sein muss. Diese hat nämlich nur sehr punktuell etwas mittzuteilen. Trotzdem ist sie den ganzen Rapport anwesend. Naja, immerhin sieht man wieder mal alle Kolleginnen und Kollegen.
Danach folgt das Kernteamgespräch mit Patientin Stolz. Sie ist nun bereits zwei Wochen in der Klinik und der bisherige Aufenthalt und Therapieverlauf soll evaluiert werden. Heinz Berger, Stephanies pflegerisches Pendant im Kernteam, wäre normalerweise ebenfalls mit dabei. Aufgrund des Schichtbetriebs war es aber schwierig einen gemeinsamen Termin zu finden. Deshalb übernimmt Susanne Wolf für Heinz Berger. Dafür haben die beiden sich im Vorfeld abgesprochen. Nach dem Kernteamgespräch gibt es dann nochmals eine Absprache, damit Heinz auf dem neusten Stand der Information ist.
»Ich bin eigentlich ganz anders, ich komme nur so selten dazu«
(Ödön von Horváth, in: L. Maler et al. „Das Weddinger Modell“ 2014)
Diese kurze Beschreibung zeigt einige Grundprobleme in der Psychiatrie. Die Ziele sind eine möglichst hohe personelle Kontinuität in der Betreuung und eine möglichst hohe Patientenorientierung und -einbezug. Das ist sowohl aus Sicht der Patient:innen als auch aus Sicht der Mitarbeitenden gewünscht. Nur lässt sich dies schwer mit dem Alltag vereinbaren. Planerisch ist dies bspw. aufgrund des Schichtbetriebs der Pflege schwierig. Zudem sind die Arbeitszeiten und -modelle mit denjenigen der Ärzteschaft und Psycholog:innen nicht gut abgestimmt. Dies erschwert wiederum die gemeinsame Koordination und den Austausch. Die historisch gewachsenen Strukturen lassen oft nicht zu, was eigentlich gewünscht wäre. Und was bedeutet «patientenorientiert»? Was wird denn überhaupt «mit» den Patient:innen besprochen und wann redet man «über» sie?
Dazu passt das obengenannte Zitat. «Eigentlich» möchten wir ja so arbeiten. Wir streben es «eigentlich» an. In der Realität klappt es aber leider oft nicht.
Daneben gibt es eine ganze Reihe von weiteren Problemfeldern, die wir häufig antreffen:
- Redundante Austauschgefässe
- Mangelnde Verbindlichkeit
- Viele Umgehungskreisläufe
- Wenig Transparenz über Planung, Auslastung und Prioritäten
- Schwieriger Einbezug von Schnittstellen
Um diese Probleme zu lösen, braucht es eine gleichzeitige Veränderung der Haltung und der Struktur. Entsprechend hat der Lösungsprozess eine inhaltliche und eine methodische Komponente. Für die Inhalte – besserer Informationsfluss, neue gedachte Rollen neben den klassischen Berufsgruppen, bessere Planung und bessere Tages- und Wochenstruktur – geben Prinzipien aus der Lean-Welt die Richtung vor. Erfahrungsgemäss entsteht dabei ein System von 20-25 zusammenhängenden Lösungselementen. Ein typisches und zentrales Element ist der „Standardkalender“. Diese Visualisierung zeigt ein Beispiel dazu.
Häufig wenn wir ein solches Beispiel in unseren Workshops zeigen, erschrecken die Teilnehmenden zu Beginn. „Bei so einem getakteten Tag haben wir doch gar keine Zeit mehr für die Patient:innen!“ Ist ein Standardkalender jedoch gut in einer Institution verankert, tritt genau das Gegenteil ein: Durch die klaren Strukturen und verbindlichen Zeitfenster im Tages- und Wochenverlauf lässt sich eine höhere Verbindlichkeit und Stabilität im Alltag erzielen. Insgesamt wird der Informationsfluss klarer und eine Priorisierung der Aktivitäten wird erleichtert. Denn die Absprachen im Team finden zu klar definierten Zeiten statt, was zu weniger Störungen und Unterbrechungen in der restlichen Zeit führt. Die teambezogenen Besprechungen sind hoch standardisiert und handlungsorientiert. Der Fokus liegt darauf, sich im Team auszutauschen, Probleme anzusprechen, spezifische Massnahmen zu definieren und Aufgaben zu verteilen. Dieser klare Tages- und Wochenablauf hilft einerseits neuen Mitarbeitenden sich besser einzufinden. Andererseits hilft er auch bei der Koordination und Zusammenarbeit im Team.
Fast noch spannender ist – gerade in der Psychiatrie – die Art und Weise wie wir es entwickeln. Hier hilft der Ansatz des Design Thinking. Das Arbeiten „mit“ und „denken in“ Iterationen hilft, Dinge zu „bauen“ und zu testen und nicht nur zu diskutieren. Andererseits ist es eine methodische Hilfe, um sich vom Ist-Zustand zu lösen und die Grenzen der eigenen Vorstellungskraft zu verschieben.
Natürlich will der Kontext dabei immer beachtet werden. Aber wir können sie beruhigen, trotz Spezifitäten funktioniert es mit der Umsetzung in der Psychiatrie, in der Psychotherapie, für Erwachsene und für Kinder. Es funktioniert neben dem hier beschriebenen stationären Betrieb auch im ambulanten Bereich, in der Administration und sogar in der Kapazitätssteuerung von psychiatrischen Einrichtungen. Mit beeindruckenden Resultaten: mehr Ruhe, mehr „Flow“ und mehr Zeit für Patient:innen.
Auf was es dabei ankommt, haben die Autoren vom Weddinger-Modell so treffend zusammengefasst, dass wir sie zitieren:
- „Einfach machen: Veränderungen einführen, die unter den gegebenen Umständen konsequent und nachhaltig machbar sind, ohne dass es eines Vorschusses an finanziellen oder personellen Ressourcen oder umfangreichen Fortbildungen bedarf.
- Trotzdem machen: Die größten Widersacher, wie »Das machen wir doch eh schon!« oder »Das haben wir aber immer anders gemacht!« oder »Unsere Patient:innen sind dafür aber zu krank!« oder »Dafür ist keine Zeit!«, durch das Beginnen widerlegen.
- Weitermachen: Wissen, dass es sich bei einem solchen Projekt um einen langjährigen dynamischen Prozess handelt.
- Grösser machen: Da sich die Ausgangssituation für Punkt 1 (Einfach machen) im Laufe dieses Prozesses immer wieder verändern wird, schafft dies die Möglichkeit, kontinuierlich an dem Ganzen zu wachsen und sich immer neuen Veränderungen, Inhalten, Qualifizierungen, Ergänzungen zu öffnen.“
(L. Maler et al. „Das Weddinger Modell“ 2014)
Dazu ergänzen wir noch Punkt 5:
- Gemeinsam ausprobieren! Haltung und Struktur bedingen sich gegenseitig. Deswegen ist es wichtig, beides gleichzeitig zu entwickeln. Das gemeinsame Verständnis und eine gemeinsame Haltung entstehen beim gemeinsamen Erarbeiten eines neuen Konzepts. Das fördert nebenbei auch die Interprofessionalität und Zusammenarbeit.
Möchten sie mehr darüber erfahren? Dann melden sie sich für einen Erfahrungsaustausch. Gerne auch vor Ort bei einer Institution, die bereits eine Transformation gestartet hat.